15.02.2013

【Eigenes】Erstens! Job gesucht『Zeitbotin Annika meldet sich zum Dienst!』

Erstens! Job gesucht




„Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Mira Kankra, ihres Zeichens meine beste Freundin und Japanfanatikerin, starrte mich aus großen karamellfarbenen Augen an. „Sumimasen, aber das ist ja mal das Dämlichste, was ich je gehört habe!“
Sie schüttelte den Kopf und ließ ihre kurzen, schwarzen Haare wirbeln. Ich fühlte mich grässlich und ihre Worte halfen da nicht gerade. Gestern hatte ich erneut versucht, mich bei einem Klamottenlabel zu bewerben, und war kläglich gescheitert. Als der komische, dicke Typ mich gefragt hatte, was es denn so über mich zu erzählen gab, hatte ich allen Ernstes geantwortet: „Ich mag Fußball, vor allem den BVB, und schaue gerne How I met your mother.“ Beides stimmte, aber in einem Bewerbungsgespräch sollte man so etwas nicht unbedingt sagen.
Schon seit zwei Monaten versuchte ich, einen Teilzeitjob zu kriegen. Ich war jetzt 15 Jahre alt und bekam einen lächerlichen Betrag von zehn Euro im Monat an Taschengeld, und nein, wir waren nicht arm. Meine Eltern waren sogar ziemlich reich, allerdings total geizig. Geld leihen? Konnte man vergessen. Taschengelderhöhung? Was ist das?
Ich seufzte und strich mir meine langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Wie ich wohl gewirkt haben musste? Das nervöse, kleine Blondchen mit Höhenangst, Schweißausbrüchen und Körbchengröße AA. Das Leben war doch nicht fair.
Gemeinsam mit Mira quetschte ich mich durch die Schülermassen des Goethe-Gymnasiums, das so alt war wie es klang und in einer der hintersten Ecken Dortmunds lag, ganz nah bei Unna. Die Wände waren beschmiert, die Türen teilweise gar nicht mehr vorhanden, das Essen ungenießbar, die Klos seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt worden und die Klassenzimmer so ungefähr das Gegenteil von modern. Trotzdem mochte ich es hier eigentlich recht gern. Klar, die Schule war klein und hässlich, aber die Lehrer machten das Beste draus, Lachanfälle im Unterricht garantiert. Außerdem gab es hier nie Streit oder gar Prügeleien, ab und an zwar Zickenkriege, aber das hielt sich auch in Grenzen.
Deprimiert senkte ich den Blick und lief natürlich sofort in jemanden hinein. Mit einem schnellen „Sorry“ entschuldigte ich mich, sah auf und erkannte Irene Schneider, eine Freundin von Mira und mir. Wir drei waren gleich klein, eins sechzig, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Mira war auf eine zerbrechliche Art niedlich, mit Untergewicht und piepsiger Stimme, und Irenes neonblau gefärbte Haare und ihre blutroten Kontaktlinsen verrieten jedem, dass sie um einiges selbstbewusster war als Mira und ich zusammen. Ich selbst war so ein Mittelding. Mittelmäßig hübsch, eine Niete in Mathe, aber sportlich, blau-grüne Augen, eigentlich immer fröhlich. Heute war leider nicht eigentlich und so berichtete ich auch Irene von meinem Versagen beim Vorstellungsgespräch. Sie kommentierte das mit ihrer dreckigen Lache und der Bemerkung: „Sieh’s ein, Annika Klein. Du bist stur, nicht gerade die Schlauste, einen Meter sechzig groß und das genaue Gegenteil von auffällig!“
Ich schlug ihr kräftig auf den Hinterkopf, was sie nur noch mehr zum Lachen brachte, und sparte mir meine Antwort. Stattdessen drehte ich mich mitten auf dem Gang ruckartig um. 
„Wisst ihr was? Das wird mir alles zu doof. Eine Bewerbung noch, eine einzige. Und wenn die nichts wird, gebe ich auf“, deklarierte ich. Ich war immer noch niedergeschlagen, aber mein Kampfgeist schrie mich geradezu an, es nochmal zu versuchen.
„Wenn du meinst“, erwiderte Mira mit einem Schulterzucken. „Ich finde es momentan wichtiger, dass wir zu spät zu Latein kommen. Tempo, Mädels, oder Herr Kurzhos dreht wieder am Rad!“ 
Ich starrte auf meine weiße Ice-Watch, die ich mir mühevoll zusammengespart hatte, und erschrak. „Oh Gott, du hast recht!“
Wir liefen durch die Gänge, rannten gegen Schließfächer, Treppe rauf, Treppe runter, und schließlich standen wir in Raum 118. Es war einer derjenigen ohne Tür und das Schild an der Seite – „1.18, 9e, Herr Westwaldt“ – sah auch schon arg lädiert aus, aber ich mochte ihn. Wir hatten diesen Raum seit der fünften Klasse und er war schon irgendwie zu einem zweiten Zuhause geworden.
Durch den uringelben Türrahmen konnte man sehen, wie die Tafel rechts von uns schon beschmiert war. Jemand hatte mal wieder einen Penis darauf gemalt. Zum Glück besaßen wir nur Lehrer, die das mit Humor nahmen.
Wir traten ein und ich nahm neben Mira an meinem Tisch vorne Platz, rechts von der Tafel. Auf dem alten Holzteil standen schon so einige Nachrichten drauf, manche von mir – „Annika Klein war hier!“, „Vocaloid ruuuulez“, „=D“ –, andere in mir unbekannten Handschriften. Der Stuhl unter mir knarzte gefährlich, wie er es schon seit fünf Jahren tat, und ich hoffte, er würde nicht irgendwann unter mir zusammenbrechen. Ich hatte die Hausaufgaben, eine Übersetzung eines „De bello gallico“-Teils, mal wieder von Google mit ein paar kleinen Veränderungen meinerseits, was Herrn Kurzhos aber für gewöhnlich nicht auffiel.
„Anni, hast du die Hausaufgaben?“, fragte mich Irene vom Platz hinter mir. Sie saß neben Marius Dehrdorff, dem Klassenclown und Teil unserer Clique, dessen kurze, dunkelblonde Locken mir seltsamerweise immer Hunger auf Nudeln machten. Marius schrieb hektisch etwas auf ein Blatt, was ich nicht lesen konnte. Ich vermutete, es war Latein.
Ich wollte gerade antworten, da kam auch schon Herr Kurzhos herein.
Er war alt, sehr alt. Sein wirkliches Alter war eines der am meisten diskutierten Themen der 9e, doch wir waren uns halbwegs einig, ihn auf 80 Jahre zu schätzen. Das konnte natürlich nicht sein, aber sein eingefallenes, dickes Gesicht, seine Glatze und sein weiß-grauer Vollbart schienen uns zu bestätigen. Von seiner Kleidung gar nicht erst zu reden. Ich selbst trug ein hellblaues Sommerkleid, passend zur Sonne, die draußen erbarmungslose Hitze ausstrahlte, aber er einen braunen Pullover, schwarze Stoffhosen und allen Ernstes einen Schal. Ich an seiner Stelle wäre wohl geschmolzen.
„Guten Morgen, Klasse“, verkündete er heiser.
„Moin, Kurzi“, „Morgääähn“ und „Hi“ erwiderten die meisten von uns. Ich sagte gar nichts, sondern war zu sehr damit beschäftigt, zu überlegen, wo ich mich denn jetzt bewerben sollte. 
„Heute beschäftigen wir uns mit Cäsar. Holt bitte eure Hausaufgaben raus...“

Die Zeit war quälend langsam vergangen. Latein war eines der wenigen Fächer, die ich wirklich nicht leiden konnte – die anderen waren Mathe und Musik – und Herr Kurzhos hatte mal wieder endlos gelabert. Wen interessierten schon die Belger und die Germanen?
Mira hingegen strotzte nur so vor Tatendrang, Latein war ihr Lieblingsfach, was ich partout nicht verstehen konnte. Na ja, jedem das Seine...
„Hey, Anni!“, hörte ich jemanden rufen. Ich fuhr herum und starrte Luka Major, einen Jungen aus der Parallelklasse, mit dem ich Französisch hatte, an. Seine grünen Augen glitzerten triumphierend und er hielt einen Flyer in der Hand. „Timeless – Postdienste. Wir suchen dich!“, lautete die Überschrift. „Hab gehört, du suchst einen Job? Das hier ist gut. Die Zettel hängen hier überall rum, also wird’s von den Zeiten her gehen.“ Er räusperte sich und las laut vor: „Bist du flexibel und abenteuerlustig? Brauchst du Geld? Dann steig doch bei uns ein! Fünfzig Euro im Monat, wenn du als Zeitbote – Schrägstrich – Zeitbotin arbeitest.“
„Zeitbote?“, fragte Irene, die neben mir aufgetaucht war. „Klingt nach Teilzeitjob oder so. Fünfzig Euro zum Austeilen von Briefen. Weiß ja nicht... Aber einen Versuch ist es wert!“ Sie schlug mir auf den Rücken, was wohl motivierend gemeint war, aber verdammt weh tat. 
Ich verdrehte die Augen und seufzte. „Na schön. Wieso nicht?“
Dass das mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde, wusste ich damals noch nicht...

Mit einer abgegriffenen Karte in der linken Hand stand ich irgendwo im Wald. Man musste sich nicht schriftlich bewerben, was mir komisch vorkam, und das Hauptgebäude von Timeless stand tatsächlich von Bäumen und Büschen umgeben mitten in einem Forst, in dem ich noch nie gewesen war. Es war nicht weit gewesen von Goethe aus, irgendwo an der Grenze von Unna und Dortmund. Wahrscheinlich würde ich nach der Schule sofort kommen können, was praktisch war. Nicht ganz so praktisch waren der Schlamm und das Moos an meinen weißen Ballerinas.
„TIMELESS“, stand in grellroten Buchstaben an ein quadratisches Haus geschrieben, das wirkte wie ein sehr gut geschliffener Felsen. Das Grau wirkte trostlos zwischen all dem Grün der Bäume, aber die Schrift stach wirklich heraus. Welche Firma baute ihren Sitz im Wald? Ich kam mir reichlich blöd vor, aber na ja.
Ich holte tief Luft und trat durch die metallische, rote Tür.
Innen sah es gar nicht mal so schlimm aus. Eine junge Sekretärin, die ungefähr so aussah wie ich mit zwanzig, winkte mir zu. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Minirock, dazu schwarze Pumps. Ihre ebenfalls schwarze Brille ließ sie wie den typischen Sekretärinnen-Stereotyp aussehen und ihre langen blonden Haare halfen da nicht wirklich. Abgesehen von dem Pult, hinter dem sie saß, und ihrem schwarzen Drehstuhl gab es gar nichts in dem kleinen Raum, jedoch führten zwei Türen, die jeweils links und rechts vom Pult zu finden waren, in weitere Räume. Ich fragte mich, wie groß das hier wohl war; ich hatte nicht gesehen, wie weit sich das Gebäude nach hinten zog.
Der schwarze Steinboden ließ meine Schritte sehr laut wirken und die hellgelb tapezierten Wände wirkten irgendwie fehl am Platze, doch ich hatte meinen ‚So, du machst das jetzt, Anni‘-Blick und die dazu passende Laune aufgesetzt und scherte mich nicht weiter drum. Ich würde diese Stelle jetzt bekommen!
„Annika Klein der Name. Ich habe gehört, Sie suchen Arbeitskräfte?“
Die Sekretärin, deren Namensschild sie als Catrina Maybreak auswies, lächelte. „Oh, das ist gut“, sagte sie mit einem solchen amerikanischen Akzent, dass ich ganz genau hinhören musste, um diese einfachen Worte zu verstehen. „Wenn du mir bitte folgen würdest...“
Sie erhob sich und hatte sichtlich Probleme damit, auf ihren hochhackigen Schuhen zu laufen, um mir die rechte Tür zu öffnen. Ich tat, was sie mir gesagt hatte, und blickte in einen sehr langen Gang, in dem mehr Leute herumliefen, als man es annehmen mochte.
Wir gingen durch den Raum oder Gang oder wie man es auch nennen wollte, denn es gab keine Türen an den Wänden, nur große Fenster an der rechten Seite. Niemand sah uns an, die meisten Leute waren in ihre Unterlagen vertieft oder unterhielten sich mit anderen.
Am Ende des Ganges stand ein Pult aus Holz, hinter dem ein sehr alter Mann saß, der mir sehr bekannt vorkam.
„Herr Kurzhos?!“, rief ich aus, was zur Folge hatte, dass sich nun doch Leute umdrehten und mich musterten. Mein Lateinlehrer lachte.
„Annika Klein. Das ist ja eine Überraschung! Wie du sicher weißt, arbeite ich nur Teilzeit als Lehrer und bin auch hier aktiv.“
Nein, das wusste ich nicht und ich verstand auch nicht, wie das alles in seinen Terminplan passte, aber ich hielt den Mund.
„Warum bist du denn hier?“
„Der Teilzeitjob“, erwiderte ich. Irgendwie beruhigte es mich, dass ich die Person, die mich wohl befragen würde, kannte. „Ich brauche Arbeit und mir wurde Ihr Flyer gezeigt. Jetzt bin ich hier und ja... Was muss ich denn so genau machen?“
Er lachte wieder, stand auf und gab mir die Hand. „Das werde ich dir alles gleich erklären. Du hast den Job!“
Was? Wie bitte? War da ein Haken oder so was? Ich traute dem Braten so überhaupt nicht.
„Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes“, meinte Herr Kurzhos, als hätte er meine Gedanken gelesen – unheimlich. „Du wirst nicht unbedingt Briefe austragen müssen, sondern verlorene Post zu ihren Absendern zurückbringen. Wir sind kein Zustelldienst, musst du wissen, eher so etwas wie ein Fundbüro. Wir lagern alte Briefe, auf denen kein Empfänger steht oder so etwas in der Art und bringen sie zurück.“
Ich nickte und lächelte. Das klang sogar interessant und gar nicht mal nach so viel Arbeit. Wenn man mal bedachte, dass es bestimmt einige Briefe gab.
„Nun, allerdings gibt es da ein Problem, mit dem du natürlich fertigwerden musst und das gar nicht mal so einfach zu umgehen ist.“ Herr Kurzhos strich sich über den Bart und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Die Absender, die ihre Briefe zurückhaben sollen...“
„Ja?“, fragte ich. Das war seltsam, sehr seltsam, und irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl bei der Sache.
„Sie sind bereits verstorben.“

1 Antworten:

Schokowolf hat gesagt…

Möp. Ich lass mal meinen Senf dazu da ♥
Also erstmal gefällt mir das sehr gut, ich musste an den glaube ich richtigen Stellen anfangen zu grinsen ;)
Ich mag deinen Schreibstil sehr sehr gerne, er ist einfach und unkompliziert zu lesen, das gefällt mir :) Außerdem finde ich die Idee sehr gut! ♥

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